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Das jüngste Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) sorgt bei vielen Kassenärztlichen Vereinigungen und Mediziner:innen für beträchtliche Unruhe. Am 24.10.2023 hat das Bundessozialgericht einen Poolarzt aus Baden-Württemberg für sozialversicherungspflichtig erklärt. Mehrere KVen kündigen den Poolärzten daraufhin den Dienst noch vor Veröffentlichung der Urteilsbegründung, was umfangreiche Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung – insbesondere auf die Notdienste – hat. Nun stellt sich die Frage: Wer soll in Zukunft den Ärztlichen Bereitschaftsdienst übernehmen?
Was sind Poolärzt:innen und welche Rolle spielen sie in der medizinischen Versorgung?
Poolärzte sind Ärztinnen und Ärzte, die im Auftrag von kassenärztlichen Vereinigungen auf Honorarbasis tätig sind, um die kontinuierliche Versorgung in Bereitschaftsdiensten und Notfällen zu ermöglichen. Ihr Einsatz gewährleistet, dass Patient:innen auch außerhalb der regulären Praxisöffnungszeiten ärztliche Hilfe erhalten.
Die selbstständigen Mediziner:innen spielen eine wichtige Rolle im System des Notfalldienstes, indem sie für die regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen einen beträchtlichen Teil dieser Dienste leisten. Die Übernahme der Notfall- und Bereitschaftsdienste durch selbstständige Poolärzt:innen erreicht beispielsweise nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) etwa 80 Prozent, während in anderen Gegenden des Bundeslandes der Durchschnitt bei etwa 40 Prozent liegt. Diese selbstständigen Mediziner:innen leisten somit einen enormen Beitrag zur Entlastung der niedergelassenen Kolleg:innen, von denen viele bereits das Rentenalter überschritten, in ihrer täglichen Praxis an Kapazitätsgrenzen stoßen und bereits in 60-Stunden-Wochen die Patient:innen versorgen.
Urteil des Bundessozialgerichts zur Sozialversicherungspflicht von Poolärzt:innen
Am 24.10.2023 hatte nun das Bundessozialgericht entschieden, dass auf Honorarbasis tätige Poolärzt:innen im Ärztlichen Bereitschaftsdienst nicht automatisch als Selbstständige gelten, wenn sie in eine Notdienstorganisation eingebunden sind, wie sie in unterschiedlichen Bundesländern besteht. Dies gilt insbesondere für Poolärzt:innen, die in Räumlichkeiten der KV oder KZV arbeiten, die dortigen Geräte nutzen, mit den dortigen MFAs zusammenarbeiten, aber nicht selbst abrechnen. Auch nach der Urteilsbegründung ist nicht geklärt, ob auch KV-organisierte Notdienste, die in eigenen Praxen stattfinden von der Sozialversicherungspflichten betroffen sind oder nicht.
Nach dem Urteil unterlägen mit einiger Wahrscheinlichkeit die Poolärzt:innen damit neben ihren persönlichen Sozialabgaben zusätzlich der Sozialversicherungspflicht der Deutschen Rentenversicherung, für die die Kassenärztlichen Vereinigungen Arbeitgeberanteile zu tragen hätte. Der Vize-Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein, Ralph Ennenbach, äußerte sich besorgt über die möglichen finanziellen Auswirkungen einer bevorstehenden Verpflichtung zur Sozialversicherung. Laut Ennenbach könnte diese Änderung der Kassenärztlichen Vereinigungen Lasten auferlegen, die in ihrem Umfang nicht zu bewältigen wären. Um dieser Situation angemessen zu begegnen, sei ein schnelles Handeln notwendig.
Direkte Folgen für die Gesundheitsversorgung: KVen kündigen Poolärzten
Die Reaktionen der KVen auf das Urteil gestalten sich durchaus gemischt. Während einige KVen wie KV Baden-Württemberg, KV Schleswig-Holstein oder auch KV Saarland sofort die Poolärzte aus dem Bereitschaftsdienst genommen haben, warten einige KVen noch die Begründung des Bundessozialgerichts ab.
Das Gerichtsurteil könnte zur Folge haben, dass die bereits in der Sprechstundenzeit stark beanspruchte Ärzteschaft mit zusätzlichen Belastungen konfrontiert wird, insbesondere durch erhöhte Anforderungen an Nacht- und Wochenenddienste. Monika Schliffke, die Vorstandsvorsitzende der KVSH, erläutert, dass durch den Wegfall der Poolärzte aus der Versorgung eine erhöhte Anzahl von Dienstanweisungen an die niedergelassenen Ärzte und Medizinischen Versorgungszentren erfolgen muss. Dies ist notwendig, um die kontinuierliche Versorgung der Bevölkerung rund um die Uhr sicherzustellen.
Die Kündigung der Poolarztdienste könnte sich zudem insbesondere in ländlichen Regionen als problematisch erweisen, wo ohnehin schon ein ärztlicher Mangel herrscht. Die möglichen Folgen reichen von längeren Wartezeiten in Notaufnahmen bis hin zu einer erhöhten Belastung der verbleibenden Ärztinnen und Ärzte, welche die zusätzlichen Bereitschaftsdienste übernehmen müssen.
Die KV Schleswig-Holstein äußerte Bedenken, dass das Gerichtsurteil potenziell auch negative Konsequenzen für die flächendeckende Bereitstellung von Notfallpraxen mit sich bringen könnte. Vor diesem Hintergrund drängt Schliffke auf ein sofortiges Eingreifen der politischen Entscheidungsträger. Es sei dringend geboten, rechtliche Klarheit zu schaffen und die sogenannten Poolärzte – analog zu den Einsatzkräften im Notdienst – von einer zusätzlichen Sozialversicherungspflicht zu befreien.
Wer übernimmt den Notdienst?
Vor diesem Hintergrund stellt sich die drängende Frage, wie die Lücke, die durch den derzeitigen Wegfall der Poolärzte entsteht, gefüllt werden könnte. Erst mit der Urteilsbegründung wird sich die Bundespolitik mit dem Problem auseinandersetzen. Es gibt mehrere Ansätze, die diskutiert werden:
- KVen haben die Option, Poolärzt:innen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse anzubieten. Dies lehnen die KVen derzeit aus Kostengründen ab.
- Neugestaltung des Bereitschaftsdienstes auf Basis eines neuen Finanzierungskonzepts.
- Verstärkte Anstellung von Ärzten durch Kliniken und Praxen, um die Versorgung zu gewährleisten.
- Förderung von Netzwerken zwischen den Praxen, um die Ressourcen besser zu koordinieren.
- Bessere finanzielle Anreize und Arbeitsbedingungen, um mehr Ärzt:innen für den Bereitschaftsdienst zu motivieren.
- Ausbau telemedizinischer Angebote, um physische Präsenzzeiten zu reduzieren und die Erreichbarkeit von ärztlicher Behandlung zu verbessern.
- Politische Initiativen zur Überarbeitung und Anpassung der Gesundheitsgesetzgebung an die aktuellen Bedürfnisse und die gerichtlichen Vorgaben.
Das Gesundheitssystem steht vor einem weiteren Problem
Die Kündigung der Poolarztdienste infolge des BSG-Urteils stellt ein drängendes Problem für die Gesundheitsversorgung dar. Es erfordert kreative Lösungen, politisches Engagement und die Kooperation aller Akteure im Gesundheitssystem. Die sich abzeichnende Herausforderung birgt aber auch die Chance, langfristig eine stabilere, nachhaltige Struktur für Not- und Bereitschaftsdienste zu schaffen, die den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht wird. Das Wohl der Patientinnen und Patienten sollte dabei stets im Mittelpunkt stehen.
Die Neuausrichtung der finanziellen Grundlagen für den ambulanten Notdienst ist eine unmittelbare Konsequenz aus dem aktuellen BSG-Urteil, wie die Vorsitzenden der KV Nordrhein, Dr. Frank Bergmann und Dr. Carsten König, betonen. Das Urteil des Bundessozialgerichts hat weitreichende Folgen für die Einbindung von Ärzten, die nicht in die vertragsärztliche Versorgung eingebunden sind, in den ambulanten Notdienst. Durch die Einstufung als sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sieht sich das etablierte System vor eine Herausforderung gestellt.
Der leitende Ausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein hat nachdrücklich eine baldige gesetzliche Klärung gefordert und plädieren für eine rechtliche Angleichung der Lage von Notdienstärzten an die von Rettungsdienstärzten, die nicht unter die Sozialversicherungspflicht fallen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf einer verbesserten und außerhalb des Budgets liegenden Entlohnung des ambulanten Notdienstes, basierend auf dem einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM). Darüber hinaus wird die Einführung einer sogenannten Vorhaltefinanzierung für die ambulante Notfallversorgung als unerlässlich erachtet – ein Schritt, der als unumgänglich für die langfristige Sicherstellung des ambulanten Notdienstes angesehen wird, einschließlich der deckenden Finanzierung von Praxisgehältern für medizinisches Personal und Bereitschaftsdienst leistende Ärzte.
Was bedeutet das für die Arztpraxen und Patient:innen?
In manchen Bundesländern müssen die niedergelassenen Ärzte derzeit den Notdienst, zu dem sie verpflichtet sind, selbst stemmen. Dies führt zu einer enormen Mehrbelastung, die von den niedergelassenen Ärzt:innen kaum zu leisten ist. Manche Bundesländer aktivieren Programme, um den Druck auf die Niedergelassenen zu reduzieren. Falls Poolärzt:innen nicht mehr herangezogen werden könnten, stellt das eine Herausforderung für die Praxen dar, die neben der Regelversorgung in einer 60-Stunden-Woche zusätzlich den Notdienst organisieren müssen. Laut KV-Vorstand Saarland ist mit einer Reduzierung der Praxen mit Bereitschaftsdienst zu rechnen. Auch kürzere Dienst- und Öffnungszeiten sollen zur Entschärfung der derzeitigen Situation beitragen. In Baden-Württemberg indes wurde ein Notfallplan aktiviert, der die komplette Schließung von acht Notfallpraxen beinhaltet, sowie Teilschließungen weiterer Notfallpraxen, die für Patient:innen nicht mehr nachts, sondern nur noch am Wochenende erreichbar sind.
Fazit: Notfallversorgung und Bereitschaftsdienste müssen neu gedacht werden
Das Urteil des Bundessozialgerichts zur Sozialversicherungspflicht von Poolärzt:innen sorgt für Unruhe bei Kassenärztlichen Vereinigungen und Mediziner:innen. Manche KVen haben bereits die Dienste der Poolärzt:innen im Ärztlichen Bereitschaftsdienst gekündigt. Dies führt derzeit zu umfangreichen Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung. Schnelle Lösungen sind nun gefragt, um die Notdienste in Zukunft sicherzustellen. Es bleibt abzuwarten, wie die Lücke, die durch den Wegfall der Poolärzt:innen entsteht, gefüllt werden kann. Es werden verschiedene Optionen wie die Neugestaltung des Bereitschaftsdienstes, die verstärkte Anstellung von Ärzt:innen oder der Ausbau telemedizinischer Angebote diskutiert. Die KVen fordern eine baldige gesetzliche Klärung und bessere finanzielle Anreize, um die Attraktivität des Bereitschaftsdienstes zu erhöhen. Es bedarf kreativer Lösungen und politischem Engagement, um die Gesundheitsversorgung langfristig zu verbessern und die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen.
Quellen: